Der veränderte Mann
Themen:
Schlaganfall, Rehabilitation, halbseitige Lähmung, beeinträchtigte Sprechfähigkeit, veränderte Persönlichkeit, Widerstand im Heilungsprozess
Alter Patient/in:
45 - 50 Jahre
Angewandte Methode:
Craniosacral Therapie
Meinen ersten Schlaganfallpatienten durfte ich vor rund 10 Jahren behandeln. Ich lernte den Mann in einem Café kennen, in dem ich damals noch in Teilzeit als Servicefachkraft arbeitete. Wir hatten Zeit zum Plaudern und er erzählte mir in langsamen und von starkem Stottern unterbrochenen Worten von seinem 6 Wochen zurückliegenden Schlaganfall. Nebst dieser auch im kognitiven Bereich beeinträchtigten Sprechfähigkeit habe sich seine ganze Persönlichkeit verändert und auch die typische halbseitige Lähmung sei ihm nicht erspart geblieben. Beim Gehen musste er sich sehr stark konzentrieren, denn er hatte Koordinationsstörungen und konnte das Bein nicht richtig anheben. Das Gleiche galt für den Arm. Er konnte ihn weder aus eigener Kraft anheben, noch die Hand zum Greifen gebrauchen. Für den Laien sah es im ersten Moment so aus, als sei er vollkommen betrunken unterwegs. Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme und fragte ihn, ob er nicht in die Craniosacral Therapie kommen wolle. Da er keine Zusatzversicherung hatte, bot ich ihm kurzerhand eine 90-Prozentige Preisreduktion an, denn ich wollte ihn unbedingt als Klienten gewinnen. Er war sehr dankbar und sagte zu. Schon bald darauf verabredeten wir uns zum ersten Termin.
Ich hatte großes Vertrauen in die Behandlungen, denn jede Sitzung war angefüllt von guten Prozessen und Reaktionen in seinem Körper. Den ersten Durchbruch erzielten wir in der vierten Begegnung. Einige Tage nach dieser Sitzung kam er zu mir ins Café und sagte: „Schau mal was ich jetzt kann!“ Dann hob er seinen vorher gelähmten Arm ohne zusätzliche Zuhilfenahme der gesunden Hand an und platzierte ihn wie selbstverständlich auf der Bartheke. Ich machte Freudensprünge!
Seine Fähigkeit, Arm und Bein wieder benutzen zu können, wurde schrittchenweise besser. Leider bemerkte ich aber schon nach etwa sechs Wochen, dass er anfing, sich innerlich gegen weitere Fortschritte zu sträuben und der Heilungsprozess stockte. Natürlich sprach ich ihn darauf an. Er erklärte mir, dass er sehr viel Freude an seiner neu erlangten Persönlichkeit habe. Er befürchtete, dass er durch die Heilung seines Körpers wieder zu dem Menschen werden würde, der der vor dem Schlaganfall war, und das wollte er auf keinen Fall. Da ihm die Sitzungen aber sehr gut taten, arbeitete ich weiter mit ihm, und versuchte einfach, seinem Nervensystem so viele neue Impulse anzubieten, wie es bereit war anzunehmen. Als wir schlussendlich die Therapie auf meine Initiative hin nach vier Monaten mit wöchentlichen Sitzungen beendeten, weil ich nicht bereit war, eine 90-Prozentige Umsatzeinbusse für Wellnessbehandlungen hinzunehmen, war ich schon ziemlich enttäuscht, denn ich war sicher, dass wir viel mehr hätten erreichen können. Ich hatte damals noch nicht vollständig gelernt, Zeitpunkt und Ausmaß von Heilung vollkommen bei meinen Patienten zu lassen....
...aber wie erstaunt war ich, als ich ihn einige Jahre später zufällig wieder sah! Ich bemerkte ihn, als er aus einer Tram ausstieg und schaute ihm zu, wie er zu einem Billetautomaten ging und ein Zugticket löste. Ich konnte keinerlei Koordinationsschwierigkeiten oder auch nur einen Unterschied zwischen den beiden Körperseiten ausmachen. Er bewegte sich, als hätte er nie einen Schlaganfall gehabt! Noch größer wurde meine Verwunderung, als ich ihn ansprach. Er konnte in ganz normalem Tempo und ohne das geringste Stottern sprechen! Ich war völlig von der Rolle. Wir konnten uns nicht lange unterhalten, aber offensichtlich ging der Heilungsprozess von selber langsam und stetig weiter, nachdem wir mit der Cranio aufgehört hatten. Wie es aussah, brauchte der Mann einfach ein bisschen länger, um seine Gesundung zuzulassen, so dass jeder Teil seines Systems mitkommen konnte. Aber wie wunderbar, dass es schlussendlich so gut geklappt hat!
Ich habe aus diesem Fall unglaublich viel gelernt. Nicht nur in Bezug auf anatomische und behandlungstechnische Fertigkeiten, sondern vor allem auch über die Fähigkeit, großes Engagement mit professioneller Distanz unter einen Hut zu bringen.
Hinzugefügt am:
26. November 2018